Die Meinung am Freitag, 3.10.2014, von Henrike Müller und Robert Hodonyi

Wir meinen, dass die Friedliche Revolution 1989/90 auch heute noch inspirieren kann. Zwei (persönliche) Anmerkungen zu 25 Jahre Fall des Eisernen Vorhangs.

02.10.14 –

In die Sommerferien 1989 ging ich als fleißige sozialistische Schülerin, die keinerlei Skepsis gegen den Staat aufzubringen vermochte. Nach den Ferien ging ich zurück in die Schule mit dem Gefühl (noch nicht Wissen), „hier stimmt was ganz und gar nicht". In der Zwischenzeit verließen Familienangehörige unter größter Geheimhaltung die damalige DDR über Ungarn, Österreich in die Bundesrepublik. In der Nachbarschaft waren plötzlich Wohnungen leer, über den Verbleib der Nachbarn wurde nur leise geflüstert. In der Schule fehlten Klassenkameraden und keine Lehrerin war in der Lage zu sagen, wohin, obwohl wir es alle wussten. Zu Hause wurde wochenlang die Frage diskutiert „Sollen wir auch?" und ich wurde täglich gemahnt „Erzähl niemandem davon!" (Ein Satz an den man gewöhnt war).

Dann folgten die Bilder aus Ungarn, aus der Prager Botschaft, die Pläne in der Familie, ebenfalls zu gehen, wurden konkreter. Das Flüstern wurde lauter, auf dem Schulhof diskutierten wir offen, der Staatsbürgerkundeunterricht wurde zum Versuchsfeld von Rede und Gegenrede. Dann Demonstrationen! Zunächst nur im Fernsehen verfolgend, gab es sie auch in der eigenen Stadt und die immer währende Warnung „Da gehst du auf gar keinen Fall hin!" Die Neugierde war größer, man schlich sich hin und kam zutiefst irritiert zurück. Wenn so viele so unzufrieden sind, warum haben sie nicht viel früher was gesagt... Die Naivität war grenzenlos und die Enttäuschung von der bewunderten Lehrerin, die keine Antworten mehr hatte, riesengroß.

Es waren verwirrende Wochen zwischen Unverständnis (was haben sie denn alle plötzlich, uns geht's doch gut) und Euphorie. So viel Veränderungswille, so viel Mut, in Frage zu stellen, so viel Ideen von Bürgerschaft, Demokratie – was für ein Wort! – Mitbestimmung, statt endlosem Gerede von der Erziehung zum wehrhaften sozialistischen Staatsbürger. Ich wollte bleiben, dabei sein, mitmachen – es war alles so aufregend! Doch wir gingen.

Der Kulturschock hätte größer nicht sein können. Im Gemeinschaftskundeunterricht wurde die DDR erklärt als ein Haufen unterdrückter, zur Faulheit erzogener Ja-Sager. Keine Rede davon, was aktuell in der noch existierenden DDR für Bürgerbewegungen stattfanden, kein Wort von Demokratie und Mitbestimmung. Ich war erbost und erlernte im Schnellverfahren „Widerspruch!" einzulegen. Niemand – weder die Lehrenden, noch die SchülerInnen – teilte meine Begeisterung für demokratischen Wandel, Mitbestimmung und die Idee freier Wahlen (für mich noch eine Idee, hatte noch keine erlebt). Stattdessen hörte ich „Wählen? Bringt doch eh nix".

Die Monate des Jahreswechsels 1989/1990 waren die prägendsten in meinem Leben. Lange habe ich bedauert, die Wendezeit nicht im Osten verbracht zu haben. Im Rückblick bin ich froh über die Erfahrungen in beiden Teilen des noch getrennten Landes – schneller und intensiver hätte ich die Notwendigkeit, einerseits zu widersprechen und andererseits Brücken zu bauen, nicht lernen können.
Im Feuilleton wird meine Generation wahlweise als Generation „Eisenkinder" – verloren in den 1990ern ohne Halt und Orientierung – oder als Generation „Null Fehler" – ohne politischen Antrieb und die Zukunft verspielend – beschrieben. Wie die meisten Generationenbeschreibungen gehen auch diese fehl. „Wir" sind auch eine Generation, die den intensivsten Politikunterricht in Echtzeit erfahren hat. Die zeitgleiche Erfahrung mit Demokratie-Euphorie hüben und Politikverdrossenheit drüben hat mich und viele andere gelehrt: Demokratie ist nichts, was, einmal erreicht, ewig Bestand haben muss.

Egal wie man uns nennt (Ossi, Wessi, Wossi) und was man uns zuschreibt (Generation XY) – es ist an uns für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit bei uns und anderswo zu streiten. Denn wenn wir es nicht tun, kann morgen alles anders sein...

Henrike Müller ist Sprecherin des Landesvorstands

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Die Sommerferien 1989 verbrachte ich mit meiner Familie in Binz an der Ostsee. Es war das erste Mal, dass wir in den Sommerferien nicht nach Ungarn fuhren, wo mein Vater herkommt. Und es gab vorher und nachher nie wieder einen Sommer, indem wir so gespannt und aufgeregt vor dem Radio saßen. Die Nachrichten aus Ungarn und die Fluchtbewegungen in die deutschen Botschaften nach Prag und Budapest im August 1989 überschlugen sich, sie dominierten auch die Gespräche in den FDGB-Ferienheimen an der Ostsee. Sie wurden befeuert durch Sondersendungen vom Deutschlandfunk und Radio Free Europe, das über Mittelwelle zu empfangen war. Während mein Vater am liebsten direkt von der Ostsee gen Ungarn losgefahren wäre, argumentierte meine Mutter, dass eine Flucht ins Blaue mit zwei Kindern für sie nicht in Frage käme. Und in den Westen wollte sie sowieso nicht, da sie an eine Reform des realexistierenden Sozialismus von innen glaubte.

Es lag schon lange etwas in der Luft. So konnte man auf ungarischen Wochenmärkten bereits Mitte der 1980er Jahre T-Shirts mit der kyrillischen Aufschrift „I ♥ Perestroika" kaufen, die es in der DDR, soweit ich mich erinnere, nicht im Handel gab. Ich trug dieses T-Shirt eines Tages in der Schule, was bei meiner Russischlehrerin, die auch Staatsbürgerkunde unterrichtete, nicht gerade Begeisterungsstürme auslöste.

Meine Eltern hatten mir erklärt, was „Perestrojka" und „Glasnost" bedeuteten, dem zweiten geheimnisvollen, nach einer anderen Zukunft klingenden Wort. Ich wusste, dass der neue Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, einiges in Bewegung brachte und meine Eltern viel von ihm hielten. Neben der „Sächsischen Zeitung", die meine Mutter las und der ungarischen „Nepszabadsag", die mein Vater im Abo hatte, landete immer häufiger die sowjetische Zeitschrift „Sputnik" auf dem Küchentisch, über die viel diskutiert wurde. Der „Sputnik" wurde Ende 1988 in der DDR verboten, nach dem die Zeitschrift über den Hitler-Stalin-Pakt berichtet hatte, was nicht zum offiziellen Geschichtsbild der SED passte. Das Verbot der beliebten Zeitschrift führte zu Proteststürmen und war sicher auch ein Katalysator der Entwicklung ein halbes Jahr später und dem Ruf nach mehr Presse- und Meinungsfreiheit.

Ein zweiter Punkt kommt dazu, der heute oft vergessen wird: Die Unzufriedenheit der Bevölkerung in der DDR speiste sich nicht nur aus der schlechten ökonomischen Lage, Umweltzerstörung, der Angst vor Repression, eingeschränkter Reisefreiheit, fehlendem Rechtsstaat und vielem mehr, sondern auch aus dem schlechten Zustand der eigenen vier Wände. Es ist sicher kein Zufall, dass gerade Dresden und Leipzig mit ihren großen und traditionsreichen Altbausubstanzen zu Zentren des friedlichen Protestes gegen das SED-Regime wurden. Der Staat ließ die Altbauten regelrecht verkommen. Unter der Überschrift „Ist Leipzig noch zu retten?" strahlte das DDR-Fernsehen im November 1989 eine architekturkritische Reportage aus, die eine schonungslose Bestandsaufnahme planwirtschaftlicher Wohnungsbaupolitik vornahm: „Bilder, die wehtun, und die wir so bislang nicht zeigen durften, weil sie das Lackbild unserer Selbstzufriedenheit beschädigt hätten", heißt es im Sprachduktus der unmittelbaren Wendezeit. Wenig später, im Januar 1990, fand die 1. Leipziger Volksbau-Konferenz statt, an der über tausend engagierte Bürger teilnahmen und die einen generellen Abrisstopp für die Altbauten bewirkte.

Für uns Schüler begann währenddessen eine neue, aufregende Zeit, alles geriet in Bewegung. Überall, ob zu Hause oder in der Schule, wurde politisch diskutiert, wankten und stürzten die alten Autoritäten von Partei und Staat. In Dresden wurde das Lenindenkmal demontiert. Sogar der Matheunterricht wurde jetzt vom Sturm einer neuen Zeit erfasst und machte auf Grund seiner aktuellen Bezüge plötzlich Spaß. Da wir zur Zeit der letzten Volkskammerwahl 1990, aus der die CDU als Sieger hervorging, gerade Prozentrechnung auf dem Lehrplan stehen hatten, erklärte uns unser Mathelehrer diese Rechenoperation anhand der Wahlergebnisse und der daran geknüpften Verteilung der 400 Volkskammersitze.

Ich habe oft darüber nachgedacht, was es für mich heißt, dass das Land, in dem ich geboren wurde, nicht mehr existiert. Ich glaube, dass die Erfahrung von 1989/90, die komplette Auflösung des alten Systems und der kulturelle und politische Neuanfang, einem Teil meiner Generation eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit gesellschaftlichen Veränderungs- und Modernisierungsprozessen gegeben hat; auch das Bewusstsein, dass Demokratie und Rechtsstaat nichts Selbstverständliches sind und auch heute in Europa immer wieder neu erkämpft und verteidigt werden müssen. Ich habe es immer als glücklichen Umstand betrachtet, nacheinander in zwei vollkommen unterschiedlichen Systemen gelebt und gesehen zu haben, dass alles auch ganz anders sein kann.

Robert Hodonyi ist Sprecher des Kreisvorstandes Bremen-Mitte/Östliche Vorstadt

Kategorie

Migration, Integration, Asyl